Warum Papier den Weg des Vinyls gehen sollte
Digitale Medien haben Print längst als Massenmedium abgelöst. Trotzdem behandeln viele Print wie ein Standardprodukt statt auf den echten Mehrwert von Druck und Papier zu setzen.
Gastbeitrag von Markus Widmer, Mondi Uncoated Fine Paper*
Das Zeitalter der Postwurfsendung ist vorbei. Für jemanden in der Papierindustrie ist diese Aussage mit Schmerzen verbunden. Aber es ist, wie es ist: Das Gesamtvolumen an bedrucktem Papier in Europa geht seit Jahren zurück. Der Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass die Massenmedien im 21. Jahrhunderts ins Web gewandert sind. Wenn Unternehmen heute viele Menschen für wenig Geld erreichen wollen, dann gewinnen tendenziell Google, Facebook und andere digitale Plattformen. Dazu kommen die Möglichkeiten der datengetriebenen Werbung und personalisierter Inhalte basierend auf Demografie, Interessen, Verhalten, Geografie oder dem Wetter heute Nachmittag. Das funktioniert alles nicht so automatisch, wie man sich das gerne vorstellt, und nicht jedes Heilsversprechen der Digitalwerbung geht auch auf. Trotzdem: Wenn es um die Masse geht, dann sind digitale Medien und Plattformen heute der Regelfall geworden. Und während sich Hörfunk und Radio immer noch gut halten, ist Print heute vom Normal- zum Sonderfall geworden.
Der Sonderfall als Glücksfall
Das Zeitalter der Postwurfsendung ist vorbei – und das ist gut so. Auch für uns in der Papierindustrie. Wenn nämlich das Printprodukt ein Sonderfall ist, dann bedeutet das auch, dass das gedruckte Werk wieder etwas Besonderes geworden ist. Es ist ein wenig wie bei der Schallplatte, die – lange totgesagt – heute bei Musikfans einen höheren Stellenwert den je hat. Die Massenbeschallung haben längst die Streamingdienste übernommen, echte Liebhaber kaufen aber hochwertiges Vinyl, gerne als teures Sammlerstück.
Papiermedien haben also die Chance, aus der digitalen Masse herauszustechen. Das funktioniert aber nur dann, wenn wir unsere Qualitätsansprüche anheben. Wenn Print keine Massenabfertigung mehr ist, dann dürfen wir das Medium auch nicht mehr so behandeln. Das gilt für Kreative ebenso wie für Druckereien und Papierhersteller. Marco Hanecke schreibt auf seinem Blog printelligent.de: „Drucker, die Kreativwirtschaft und deren Kunden begnügen sich überwiegend und zunehmend mit einfallsarmen Standards. Die aber lassen in unserer reizüberfluteten Welt kaum noch eine Augenbraue zucken.“ Da Digital der Standard geworden ist, drohen Print und Papier zu einem Thema degradiert zu werden, das irgendwie nebenherläuft, ohne dass Energie, Kompetenz, Aufwand oder Budget hineinfließen würde. Genau das Gegenteil ist aber der Schlüssel zum Erfolg von Printmedien in einer digitalen Welt.
Es gibt sie zum Glück je länger je mehr, die Boutique-Agenturen mit Fokus auf hochwertigem Print-Design, Print-Produktioner, die den gesamten Designprozess eines Druckprojekts von Anfang an begleiten, Druckereien, deren Perfektionismus von Kunden gerne bezahlt wird, und auch Papierhersteller, die sich weg von der Masse, hin zum Mehrwert des Produkts bewegen. Sie alle müssen zusammenarbeiten und einen ähnlich hohen Qualitätsanspruch an den Tag legen, damit Print seine Stärken als analoges Medium ausspielen kann.
Papier spricht alle Sinne an
Was sind diese Stärken, verglichen mit digitalen Medien? In einem Satz: Man kann Papier anfassen. Man kann es sehen, riechen, spüren und hören. Es hat eine raue, glatte, glänzende, bunte oder weiße Oberfläche. Ein Buch lädt dazu ein, darin zu blättern, ein Lesezeichen herauszuziehen, oder die silberne Heißfolienprägung auf dem Cover ins Licht zu halten. Analog schlägt digital um Längen, wenn es um Sinneseindrücke geht. Scheier und Held sprechen in ihrem Buch „Wie Werbung wirkt: Erkenntnisse des Neuromarketing“ davon, dass mit jedem zusätzlich kongruent angesprochenen Sinn die Nervenzellen im Gehirn zehnmal stärker feuern. Das Schlüsselwort in der genannten Rechnung ist das Wort „kongruent“. Nur dann, wenn alle Sinne in sich stimmige Botschaften erhalten, wird der erwünschte Wow-Effekt eintreten.
Wissen macht den Unterschied
Der entscheidende Faktor bei einem hochwertigen und wirkungsvollen Printprojekt ist deswegen auch nicht das Budget, sondern ein schlüssiges Konzept, basierend auf fundiertem Know-how. Auch wenn der Name es verspricht: Eine Veredelung macht ein Druckprojekt nicht automatisch wertiger. Nur dann, wenn Druckverfahren, Papiere, Verarbeitung und Veredelung, Verpackung als Teil des Gesamtdesigns gesehen werden, wird das funktionieren. Solange Unternehmen und Agenturen den Druck nur als letztes Glied in der Kette sehen und auf den Aufträgen immer „A4, 4C, Offset 120g weiß“ steht, kann Print keinen Mehrwert schaffen.
Den Unterschied macht das Wissen, zum Beispiel jenes über den Unterschied zwischen Papierqualitäten oder jenes über die Möglichkeiten moderner Druck- und Veredelungstechnologien. Die Wahl eines Papiers sollte nicht eine banale Entscheidung zwischen dick oder dünn, gestrichen oder ungestrichen sein. Denn das Medium muss nicht nur in Haptik und Optik die Botschaft unterstützen, sondern auch für das gewählte Druckverfahren und die Weiterverarbeitung geeignet sein. Wissen, Erfahrung und das passende Referenzprojekt im Musterschrank machen hier den Unterschied.
Druck kann mehr
Zudem verschenken heute viele Kreative und Unternehmen Potenzial, weil sie nicht wissen, wie schnell sich der Digitaldruck weiterentwickelt hat. Viele haben noch den Stand der Neunzigerjahre im Hinterkopf, als digitale Verfahren nur eine Alternative für kleine Auflagen waren. In Wirklichkeit gibt es heute für jede Anwendung die passende Digitaldruckmaschine, die sich qualitativ nicht hinter Offset verstecken muss. Dazu kommt die Stärke des Digitaldrucks: Die Möglichkeit der Personalisierung jedes einzelnen Druckwerks ab einer Auflage von Eins. Verbindet man diese Option in einer integrierten Kampagne mit den Daten, die wir aus Digitalkampagnen gewinnen, dann hält uns nichts davon ab, eine Printkampagne ebenso zielgenau zu personalisieren wie eine Google-Display-Kampagne.
Wir müssen dabei auch kaum mehr Kompromisse angehen, was Spezialeffekte betrifft. Aktuelle Digitaldruckmaschinen, von Laser über Inkjet bis ElectroInk, ermöglichen Sonderfarben, Glanz- und Relieflacke und Metallisierungen. Für die Weiterverarbeitung gibt es digitale Präge- und Stanzverfahren wie Laserprägung und Laserschnitt. Man muss nur wissen, wo diese Maschinen stehen, wie man für sie gestaltet und welche Papiere diesen Prozess aushalten.
Klasse statt Masse
Know-how ist also die entscheidende Komponente auf dem Weg vom Massenprodukt zum Premium-Produkt für Papier und Druck. Es liegt auch an uns als Auftraggeber, Kreative, Druckereien und Papierindustrie, unser Wissen über Print und Papier zu teilen. Und den Mut zu haben, auf Klasse statt Masse zu setzen. Das gedruckte Werk hat heute für viele Papierliebhaber den Wert, den eine Vinyl-Platte für Musikfans hat. Wir sollten es mit derselben Wertschätzung behandeln.
* Die in diesem Artikel präsentierten Ansichten entsprechen der persönlichen Meinung des Autors.